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s. Aufsatz in Lüneburger Zeitung vom 12. August 2008: Raubritter, Hexen, geheimnisvolle Orte. Um sie rank en sich im Kreis Lüneburg Sagen und Legenden. Über Jahrhunderte haben die Menschen Geschichten erzählt, weitererzählt und weitergesponnen. In der Serie "Sagenhaft" greifen die LZ- Redakteure Anna Sprockhoff und Dennis Thomas die spannendsten Heimatgeschichten auf und fragen den Kreisarchäologen u. Geschichtskenner Dietmar Gehrke nach dem wahren Kern. Das bewaffnete Aufgebot der Lüneburger Bürger setzt den Braunschweiger Angreifern zu. Rund 700 Mann, Ritter und Gefolgsleute des Herzogs Magnus, ziehen sich vom Schlachtgetümmel auf dem Marktplatz zurück in Richtung Sand, um sich neu zu sammeln. Doch ein Mann stellt sich ihnen in den Weg. Er tritt aus seiner Backstube hinaus auf die Straße, blickt den Feinden Lüneburgs entgegen. "Raus aus unserer Stadt!" brüllt er. In den Händen hält er nicht mehr als eine Brotschaufel. Er füllt seine Lungen mit frischer Luft. Atmet aus, setzt zum ersten Hieb an, reißt mit Wucht den ersten Braunschweigischen Ritter von den Füßen, pariert den Schwertstreich eines feindlichen Söldners und erschlägt den nächsten. Ein Bäcker wird in der St.-Ursulanacht am 21. Dezember 1371 zum Helden des Lüneburger Bürgertums. Im Konflikt um die Stadt Lüneburg - während des Erbfolgekrieges zwischen den Welfen und Askaniern - hat sich die Stadt auf die Seite der Askanier gestellt. Landesherr Herzog Magnus von Braunschw. -Lüneburg kann dies nicht dulden. Er handelt einen Waffenstillstand mit den Askaniern aus - allerdings nicht um des Friedens Willen, sondern um seine Kräfte für einen Angriff auf Lüneburg zu bündeln. Doch die Bürger der Stadt geben sich der trügerischen Sicherheit des Waffenstillstandes nicht hin, besetzen Türme und Stadtmauern - und warten. In der Nacht vor dem Tage der Heiligen Ursula, der Patronin des Tages, sammelt Magnus rund 700 Ritter und Gefolgsleute vor den Mauern der Stadt in der Nähe des Kalkberges. Am Turm Fredeke (am Ende der heutigen Sülzwallstraße) legt die herzogliche Streitmacht Leitern an die Stadtmauer, um sie zu überwinden. Auf der anderen Seite treffen sie auf den ersten Widerstand. Bewaffnete Bürger erwarten die Eindringlinge mit Schwertern und Schürhaken. Kaltes Eisen wird mit Blut getränkt. Dem Braunschweiger Ansturm fallen jedoch schnell die ersten Lüneburger zum Opfer - darunter Nikolaus Garlop und Gebhard van der Möhlen. Erbittert kämpfen die Lüneburger gegen die herzogliche Streitmacht, werden aber langsam durch die Straßen zurückgedrängt - bis hin zum Marktplatz. Der Lüneburger Stadthauptmann Ulrich von der Weißenburg wirft sich nach vorn, bietet den Angreifern einen Waffenstillstand an, um anschließend mit den Bürgern die Übergabe der Stadt auszuhandeln. Des Herzogs Feldhauptmann, seines Sieges gewiss, willigt ein. Der Stadthauptmann lässt Magnus' Mannen den Stadtweinkeller öffnen. Währenddessen verschafft sich Ulrich von der Weißenburg einen Überblick über die Kampfkraft der Braunschw. und versammelt Lüneburger Bürger und Söldner auf dem Sand. Danach geht das Bürgerheer auf dem Marktplatz zum Angriff über. Der Stadthauptmann fällt als einer der ersten. Sein Tod facht den Kampfeswillen der Lüneburger noch mehr an. Sie treiben die Gegner durch die heutige Große Bäckerstraße. Dort wartet schon der Bäcker. Er wirbelt um seine eigene Achse. Mehlstaub fällt von seiner Kleidung ab, hüllt den Mann für einen kurzen Moment in eine weiße Korona, während er weiter um sich schlägt. Einen Söldner presst er mit seinem Körper an die nächste Hauswand, verpasst ihm mit der Stange einen Hieb auf den Schädel und haut einem vorbeihastenden Rittersmann mit der Brotschaufel zwischen die Beine, sodass der mit seinem Kettenhemd rasselnd zu Boden geht. Insgesamt 22 Feinde erschlägt der Bäcker in der St.-Ursulanacht. Die Braunschweiger versuchen zu fliehen, Richtung Sülztor, werden aber von einer Truppe bewaffneter Bürger aufgebracht. Nach heftigem Kampf ergibt sich auch der Rest der herzoglichen Streitmacht und streckt die Waffen. Das sagt der Experte: Bei wohl kaum einer anderen Sage kann man derart mit Recht von einem "wahren Kern" sprechen wie im Falle des Bäckers, der der Bäckerstraße im Jahre 1371 ihren Namen gegeben haben soll - tatsächlich ist der Straßenname jedoch älteren Datums und erklärt sich aus der Tatsache, dass sich dort wirklich eine ganze Reihe von Bäckern niedergelassen hatte. Der Ruhm des Bäckers ist mit Sicherheit auch darauf zurückzuführen, dass die Ereignisse der St.-Ursulanacht innerhalb der Lüneburger Chronistik eine herausragende Bedeutung besaßen, für die Lüneburger Bürger quasi identitätsstiftend wirkten. Die Erklärung leuchtet ein: Schon seit längerer Zeit waren die Stadt Lüneburg und ihr Landesherr, Herzog Magnus, Rivalen; während Magnus bemüht war, seine Macht und seinen Einfluss in seinem Herzogtum zu wahren, agierte die Stadt Lüneburg längst wie eine freie Reichsstadt und schloss selbstständig Verträge und sogar eigene Bündnisse. Der Krieg zwischen Welfen und Askaniern um die Erbfolge im Herzogtum war für die Stadt Lüneburg ein erneuter Anlass, den landesherrlichen Einfluss weiter zu beschneiden. Die Zerstörung der herzoglichen Burg auf dem Kalkberg durch die Lüneburger Bürger besaß daher einen enormen Symbolwert. Für die Lüneburger nicht minder bedeutsam war das Scheitern des Versuches der Welfen, "ihre" Stadt in der besagten St.-Ursulanacht des Jahres 1371 zurückzuerobern. Sogar der Untergang eines Dorfes soll auf das Konto der herzoglichen Mordbuben gehen. In den zeitgenössischen Schilderungen finden sich keine direkten Hinweise auf die Heldentaten des Bäckers. Sehr wohl allerdings tauchen in den Gefallenenlisten jener Zeit die Namen von Handwerkern - darunter auch Bäcker - auf, die in jener Nacht ihr Leben für ihre Stadt ließen und denen man zum Teil auch posthum ihre kämpferische Leistung bescheinigte. Die Sage selbst ist eine Wandersage, die beispielsweise in ähnlicher Form auch aus dem österreichischen Graz überliefert ist. Man vermutet daher heute, dass in der Gestalt des Lüneburger Bäckers die dazugehörigen Geschichten gewisser massen zusammengezogen und verdichtet wurden - das gilt übrigens auch für die im Lüneburger Museum ausgestellte Figur des Bäckers. Langfristig erfolgreich war sein Einsatz letztlich nicht. Bereits im 16. Jahrhundert errichtete der Landesherr erneut ein Schloss in Lüneburg; diesmal gar mitten in der Stadt, schräg gegenüber dem Rathaus, dem Symbol bürgerlicher Selbstbestimmung. Heute ist darin das Landgericht unter gebracht.
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